Versteinert – eine DDR-Kurzgeschichte von Ernst Josef Lauscher, 2014
An einem sonnigen Juninachmittag des Jahres 1984, wie gefangen in hehrem Pflichtbewusstsein ihrem Vaterland gegen-über - ihrem Generalsekretär und der SED natürlich zutiefst ergeben, vielleicht in Gedanken an den nächsten Urlaub an der Ostsee oder Bettgeschichten, wer weiß das schon, spüren zwei wachhabende Volkspolizisten vor der Sowjetischen Bot-schaft in Berlin „Unter den Linden“ während ihres Dienstes um etwa 17:23 Uhr etwas Seltsames in sie kommen. Zehen, Füße, Beine, Unterleib und schließlich ihre Körper ertauben. Die Muskeln werden steif, allmählich hart wie ein Nudelholz. Mannhaft verharren sie dennoch – wie könnten sie anders - schieben das Phänomen auf die zahlreichen Wodkas, die sie tags zuvor bei der Geburtstagsfeier eines Kameraden konsumierten, wollen keinesfalls auf sich aufmerksam machen, wol-len sich im Hinblick auf Karriere und Beförderung jedwede Peinlichkeiten ersparen, wollen einfach, daß das Phänomen wieder verschwindet.
Aber das Phänomen verschwindet nicht. Keiner von beiden wagt es, zum anderen hinüberzusehen, und jeder Versuch, es zu versuchen, würde ohnehin scheitern. Unverrückbar der Himmel, kein Wolkengeräusch, die Perspektive wie eingefroren - starr geradeaus gerichtet sind die Blicke der Polizisten. Dennoch registrieren sie zwangsläufig alles, was des Weges kommt, seien es hübsche Beine, ein tiefes Dekolleté, ein irritiertes Lachen, neugierige Blicke wegen ihrer überzeugenden Unbeweglichkeit. Irgendwann, der Sinn für Zeit ist den Männern abhanden gegangen, wird ihnen bewusst, daß etwas Monströses von ihnen Besitz ergriffen hat, und unversehens schießt ihnen durch den Kopf, einem Attentat zum Opfer gefallen zu sein, und sie rätseln, wie es die Attentäter wohl angestellt hatten, ihnen zu schaden, das heißt, sie erstarren zu lassen. Gewiss waren westliche Agenten am Werk, die sie mit Hilfe einer neuartigen Waffe lahmlegen wollten, um in die Sowjetische Botschaft einzudringen.
Was tun?
Unfähig, sich zu rühren, bleibt ihnen nur nachzudenken, und die Denkarbeit konzentriert sich bald nur auf ein Thema: Flucht. Weg wollen sie, nichts wie weg, und die Panik beflügelt ihre Phantasie, die sich jetzt ins unwirklich Kosmische verabschiedet. Schließlich misslingt ihnen sogar, mit den Augen zu rollen. Tränen der Ohnmacht und Verzweiflung fließen. Ein allerletztes Mal fliegen ihnen Bilder ihrer Frauen und Kinder zu, die Zukunft schmilzt auf einen Punkt. Danach wird es dunkel, kalt und still. Nichts da von jener erlösenden Helle, kein gleißendes Flimmermeer tut sich auf, keine selige Lichtflut überschwemmt sie, und singende Engel sind auch nicht in Sicht. Nirgendwo ein Himmelstor, kein göttliches Empfangskomitee - Ende, aus, vorbei.
Als ein Mitarbeiter der Sowjetischen Botschaft die Versteinerten endlich bemerkt, ihre toten Augen waren ihm aufgefallen, tritt jener peinliche Moment ein, den jedermann fürchtet: Keine Antwort zu haben auf das Vorgefundene. Mit gesteigertem Interesse betrachten später andere Polizisten und Mitarbeiter der Botschaft die leeren, grauen Augen der Volkspolizisten, die widernatürliche Blässe ihrer Haut, die nun wie ausgewaschen scheint, vergraut wie schmutziges Pergament, sodass man endlich feststellt: Es handelt sich tatsächlich um ein Phänomen. Zunächst wird ein Kordon Volkspolizisten um die Unbeweglichen gezogen, danach ziehen sich Vorgesetzte und die Botschaftsmitarbeiter zur Beratung in die Botschaft zurück - eine Stunde wilder und hitziger Spekulationen ohne vernünftiges Ergebnis. Auch der Botschafter selbst ist ratlos. In einem nächsten Schritt stellt man den Unbeweglichen Wachen zur Seite, dann wird das Gebiet vor der Sowjetischen Botschaft weiträumig abgesperrt. Dutzendschaften der Volkspolizei und des Staatssicherheitsdienstes schwärmen aus, um das Gebiet um den vermeintlichen Tatort zu sichern. Spezialisten der Kriminalpolizei und der Stasi inspizieren den Schau platz, man fotografiert, katalogisiert, analysiert und einiges mehr – natürlich mit deutscher Gründlichkeit. Und irgendein Eifriger eilt herbei, um einen Käfer der Gattung Trogoderma, auch Berlin-Käfer genannt, aufzusammeln, der es sich auf dem Kopf eines Versteinerten bequem gemacht hatte.
Kommandos hallen den leergefegten Boulevard lang. Man spürt, wie die durch das Monströse ausgelöste Aufregung sich in der Stadt verbreitet. Womöglich hat man es mit dem Beginn eines Angriffs der Westmächte zu tun. Hingegen soll niemand die Unsicherheit bemerken, die die recherchierenden Spezialisten allmählich umfängt, Spezialisten, die ihr Bestes geben, um der Lage Herr zu werden und dennoch scheitern. Als die Dunkelheit hereinbricht, werden die versteinerten Polizisten behutsam in Decken gewickelt und abtransportiert. Daß ihre Männer an einem sonnigen Spätnachmittag im Juni vor der Sowjetischen Botschaft „Unter den Linden“ ums Leben kamen, obwohl weder Schüsse fielen noch lebensbe-drohliche Vorgänge registriert worden waren, wollen die Polizisten-Ehefrauen dann auch nicht zur Kenntnis nehmen. Ihre Proteste werden von den üblichen bürokratischen Worthülsen erstickt, aber man gestattet den Frauen immerhin, ihre Männer zu sehen. In einem Raum des Gerichtsmedizinischen Institutes haben die Versteinerten eine neue Heimstatt ge-funden, obduziert werden sie nicht, denn die dafür notwendigen Werkzeuge würden an ihrer hartholzigen Struktur scheitern. Die Röntgenbilder lassen nicht viel mehr erkennen als eine kompakte Masse. Knochen, Muskeln, Innereien et cetera fehlen. Was die Frauen beim Anblick ihrer versteinerten Männer dachten und empfanden, ist nicht überliefert. In aller Stille und abgeschirmt von der Öffentlichkeit werden die Volkspolizisten Karl-Heinz Klettner, 44, und Jan Plischka, 46, eine Woche später zu Grabe getragen. Offiziell heißt es, sie wären in Ausübung ihres Dienstes zu Tode gekommen. Innoffiziell verbreitet sich der Mythos, dass das Gebiet um die Sowjetische Botschaft kontaminiert sei und alle Menschen, die über den Boulevard „Unter den Linden“ flanieren, Krebs bekämen.
The Arts
Micaela Diamond and Ben Platt in "Parade" - Photo Joan Marcus.png. What Starring in "Parade" Taught Me About Hate and Hope, June 9, 2023, 5:00 a.m. The New York Times
By Micaela Diamond
Eight times a week, I watch a Jewish man get lynched on Broadway.
“Parade,” in which I play the part of Lucille Frank, is a musical based on the true story of Leo Frank, a Jewish man who managed a pencil factory in Atlanta. In 1913 he was accused and convicted — despite a lack of crucial physical evidence — of murdering a 13-year-old girl who was found dead in the factory’s basement. He was given a death sentence that was later commuted. But by then, the public was so enraged, he was kidnapped from prison and hanged by a mob. A large part of the musical dramatizes the trial. It is also, surprisingly, a love story.
My character is Leo’s wife, who’s forced to face the unforgiving nature of racial supremacy and the impossibility of escaping her Jewish identity. In the opening scene of “Parade,” Lucille chides Leo for using Yiddish words like “mes-huggeneh.” Unlike Leo, she has embraced wealthy Southern society her entire life. The book writer of “Parade,” Alfred Uhry, likes to say that people like Lucille are “Southern first, American second, Jewish later.” To an audience, the only hint of her Jewish roots, at first, may be her curls.
I can relate to Lucille — her Jewishness, her lack of Jewishness, her insistence on assimilation. There are so many parts of my identity that feel more at the forefront than my Jewishness, like being an actor, being queer, being a good cook. Admittedly and annoyingly, I made plenty of “Jewish” jokes growing up. I went to Israel on Birthright at 19 mostly be-cause I wanted to make out with my best friend in a foreign country.
Yet our identities are as nuanced as our roots are indelible. Both Lucille and I wear jewelry with the Star of David; for me and perhaps for her, it symbolizes the history and resilience of our people. Along with the other Jewish cast members in our show, I stand in a circle and say the Kaddish before almost every performance. None of us regularly go to synagogue, but it is an expression of community as we tell this hard story.
Working on this show night after night, I’m forced to confront another truth: Antisemites have never cared what kind of Jew you are, whether you attend synagogue or throw around Yiddish words. “Parade” speaks to historical antisemitism and mob violence, and it forces us to see how antisemitism and racism are inextricably linked, underscoring how the pursuit of justice fails in a broken judicial system. There is fear in acknowledging ourselves — Jewish people — as marginalized. But as Lucille learns through the course of the play, assimilating into the mainstream and hoping that will protect you isn’t the answer. If we refuse to embrace our inherent otherness — the parts that make us definitively Jewish Americans — we forget our common struggle with other marginalized people.
The evidence presented against Leo in court revolves mostly around Jewish stereotypes. We hear about Leo’s “fancy talk” and his “sweating from every pore,” and we hear testimonies that he had a pattern of inviting underage girls up to his office. Many of these stereotypes felt outlandish to me, but such conspiracies are at the very core of colloquial antisemitism. The idea of “fancy talk” is a dog whistle referring to the perception that Jews run the world. The pedophile accusations are rooted in what is known as blood libel, a rumor dating back to the Middle Ages that Jews murder Christian children, then use their blood for ritual purposes like baking matzo.
But in the play, it is not only Jews who are maligned and abused. The only other person the police considered making a suspect in the murder was a Black man, the night watchman of the pencil factory. In the show, the prosecutor on the case has been instructed to deliver a quick conviction, and he casually states that hanging a Black man “ain’t enough this time. We gotta do better.” He knows that pinning the crime on a Jewish man will cast the outcome in a different light than pinning it on a Black man: He can knock the Jewish man down a peg, whereas the Black man’s social status has no farther to fall. In the layered storytelling of “Parade,” we can see how antisemitism and racism are integrally connected and how white people in power are incentivized to pit minorities against one another, using racism to provide convenient scapegoats and the illusion of law and order.
Minnie — Minola McKnight, played by the incomparable Danielle Lee Greaves — is the Franks’ Black housekeeper. She’s built a relationship with Lucille over years, becoming her confidante. But Minnie testifies against Leo, offering evidence we later learn was fabricated by the prosecution. It is a damning moment, both because it leads to Leo’s indictment and because it forces the audience to reckon with how the criminal justice system fails to protect all of those without power.
“Parade” was first produced on Broadway in 1998 and Michael Arden, who directed the 2023 production, understands that successfully reviving a musical requires purposeful reinvention. Throughout the process, he has led with beautiful intention around making those who were underrepresented in 1913 (or 2023) a stronger and more active presence. Among my favorite moments in the show is one of the last: Minnie and Lucille, reconciled, center stage, singing softly under a parasol together. A Black woman and a Jewish woman, undone by the same system, having a picnic.
Given the deep pain Black people have suffered at the hands of white supremacy, I spent a lot of time reflecting on why we’re telling Leo Frank’s story from 1913 when a multitude of Black people had been lynched at that time. What about their stories?
But “Parade” is also about the importance of honoring every story and recognizing the ways in which we can take responsibility for one another. It’s a story about dangers inherent to America’s essence: a country built on values of inclusivity and representation that is too often resistant to progress and change. The gruesome reality of white centralized power means history will always have an iron grip on us, holding us in the past. The musical’s opening number features a Confederate soldier singing about the beautiful hills of red clay he is going to war for. The show closes with the same melody in its finale; we see a contemporary white couple crack a Bud Light at a picnic on the same red clay and are reminded that this history is alive.
I am often asked, “How do you do a show so heavy night after night?” There is something about this story of a Jewish woman finding her voice, about a couple out of love returning to each other, that is healing and inspiring. It has given me a newfound responsibility as an actor, as a human and as a Jew telling this story. It has also shown me how the harms this country has inflicted on its own people for centuries intersect, and today, the show allows me to see myself — and hopefully allows us all to see ourselves — in those difficult stories.
There have also been such profound moments of joy. In May, Ben Platt, who plays Leo, and I were invited to perform songs from our show for the White House’s American Jewish Heritage Month celebration in front of the president, the first lady and many prominent Jewish Americans. (I brought a napkin home for my mom as a souvenir.)
Yet during our first preview performance, on the street outside the Jacobs Theater on Broadway, a group of neo-Nazis protested the show, handing out fliers and holding banners. A play that was meant to be a revival of a century-old story suddenly had contemporary implications. It was a haunting reminder of this story’s immediacy.
After Leo Frank was lynched, the real-life Lucille stayed in Georgia until her death. She didn’t run far away, not even to Brooklyn, where he grew up. I’ve often wondered why. Maybe she knew she would find antisemitism there, too. When my mother heard the news about the harassing neo-Nazis, she couldn’t believe it. “In New York! In New York,” she lamented. But antisemitism has always been here, in my Manhattan, in Leo’s Brooklyn and Lucille’s Atlanta.
So eight times a week, I watch a Jewish man lynched on a Broadway stage. And how do I do a show so heavy night after night? With this crucial reminder: We will find the music in all of it. We will find joy in the Franks’ lives and in the stories, we share with one another backstage. We will bring the Franks to the White House. We will see ourselves in the heroes and the villains. We will honor Leo Frank and all those who deserved, but never saw, due process.
We will find the music. We will, and we will, and we will.
INTERVIEW
Estlands Premierministerin: "Wer nicht um seine Freiheit kämpft, verliert am Ende alles"
Die EU-Partner dürften nicht in die Falle des russischen Narrativs tappen, wonach die Ukraine den Krieg jedenfalls ver-lieren werde, sagt Estlands Premierministerin Kaja Kallas
Thomas Mayer – DER STANDARD Wien - 11. Februar 2024, 12:03
Österreich will sie zwar keine Ratschläge geben – aber das Beispiel ihrer Heimat Estland zeige eindrücklich, dass die Neu-tralität nicht immer schütze, erzählt Estlands Premierministerin Kaja Kallas im Gespräch. Russland jedenfalls sei nur mit Stärke beizukommen, von Schwäche fühle sich der große Nachbar ihres baltischen Staats zum Handeln provoziert. In Europa würden seit dem Ende des Kalten Kriegs viele noch in einer falschen Sicherheit leben, im Norden des Kontinents hätten Staaten wie Finnland oder Schweden den Ernst der Lage aber nun endlich erkannt. Auch wie sie die Zukunft des Kriegs in der Ukraine einschätzt und ob sie an einem Job in der EU interessiert ist, erklärt die Rechtsliberale im Interview mit dem STANDARD.
STANDARD: Sie gelten wegen Ihrer sehr harten Haltung im Ukrainekrieg und zu Russland als neue "Eiserne Lady" in der EU. Wie sehen Sie sich selbst?
Kallas: Ich habe starke Prinzipien, und das hat damit zu tun, wo ich herkomme. Ich habe lange ohne Freiheit gelebt, daher weiß ich auch, welche Bedeutung, welch hohen Stellenwert die Freiheit hat. Man muss um die Freiheit kämpfen.
STANDARD: Sie sind 1977 auf die Welt gekommen – Sie meinen die Zeit, als Estland noch Teil der Sowjetunion war, bis 1991?
Kallas: Als ich ein Teenager war, waren wir besetzt. Ich ziehe gerne Vergleiche zu meiner Oma. Als sie jung war, in den 1930er-Jahren, hatten sie alles, Freiheit, Wohlstand, sie konnten ihr Leben selbst gestalten, sie hatten alles.
STANDARD: Estland wurde 1940 zuerst von der Sowjetunion, 1941 dann von Nazideutschland besetzt, war dann 1944 wieder sowjetisch.
Kallas: Als die Besatzung begann, hat man der Familie alles genommen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war es erst recht so. Es gab zwar "Frieden", aber die Menschen hatten keine Wahl. Ich bin aus einer anderen Generation als meine Groß-mutter. Wir hatten die Freiheit nie.
Kaja Kallas ist Premierministerin und Chefin der liberalen Reformpartei von Estland. Ihre Großmutter wurde in Sowjet-zeiten nach Sibirien deportiert, was sie prägte, wie sie im Interview erzählt.© Christian Fischer
STANDARD: Bis zur friedlichen Revolution, der Loslösung Estlands von der Sowjetunion 1991.
Kallas: Was lehrt uns die Geschichte? Estland war zu Zeiten meiner Großmutter einmal ein neutrales Land, so wie Finn-land, wurde von zwei bösen Großmächten besetzt. Der Unterschied ist, Finnland hat dann um seine Freiheit gekämpft. Es hat Teile seines Territoriums und im Krieg viele Menschenleben verloren.
STANDARD: Teile gehören heute zu Russland.
Kallas: Aber Finnland behielt seine Freiheit. Das haben wir in Estland nicht geschafft. Wir verloren Frieden, Freiheit, Wohl-stand, auch die Hälfte der Bevölkerung. Wir haben nicht darum gekämpft. Wer nicht um seine Freiheit kämpft, verliert am Ende alles.
STANDARD: Hätten die Esten gegen die Besatzer kämpfen können wie die Finnen?
Kallas: Wir hätten kämpfen können, so wie die Ukraine heute. Auch wenn der Gegner noch so groß ist, solange man käm-pfen kann, gibt es eine Chance zu gewinnen. Das weiß jedes Kind. Es gibt einen Unterschied zwischen einem echten Frie-den und einem "Frieden". Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg offiziell Frieden, aber es gab Massendeportationen. Un-sere Kultur wurde unterdrückt, die Eliten wurden eliminiert. Ein solcher "Frieden" bedeutet nicht, dass das Leiden der Menschen aufhört.
STANDARD: Sie sprechen von der Zeit der kommunistischen Diktatur. Vor zwei Jahren warnten Sie früh vor einem Krieg in der Ukraine, dem Angriff Russlands, so wie es auch die polnische Regierung tat. Hat man Sie bei den EU-Partnern im Westen nicht verstanden?
Kallas: Man hatte uns hinter dem Eisernen Vorhang lange vergessen, als 1945 der Krieg vorbei war. Ihr habt über uns nicht lange nachgedacht, so wie wir nicht über euch. Meine Vorfahren waren baltische Deutsche, einige sind nach Österreich emigriert. Ihr Leben war so viel besser als unseres in Estland. Als wir 2022 zur Ukraine warnten, wurden wir als russophob bezeichnet. Inzwischen haben alle verstanden, dass wir recht hatten.
STANDARD: Dass Wladimir Putin ganze Länder usurpieren will?
Kallas: Der entscheidende Punkt ist: Was kann die russische Aggression stoppen? Darauf muss man achten. Als der Krieg im Februar 2022 begann, war das für alle ein Schock. Aber wir haben es dann doch geschafft, die Einheit zu wahren, auch wenn nicht alle Staaten die Dinge gleich beurteilen.
STANDARD: Woran lag das?
Kallas: Nicht alle Länder geben gleich viel für Verteidigung aus. 1980 gaben noch alle Nato-Staaten zwei Prozent ihrer Wertschöpfung für Verteidigung aus. Die Bedrohung war real. Heute tun das nicht alle, weil sie die Bedrohung nicht spüren. Aber sie ist auch heute real. Was löst eine Bedrohung aus? Wenn eine Seite glaubt, dass die andere Seite schwächer ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir aufrüsten, damit Russland nicht den nächsten Schritt macht.
STANDARD: Fürchten Sie einen Angriff Russlands gegen Estland?
Kallas: Nein, schauen Sie auf die Nato. Wir sind in der Nato. Wir haben den Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, wonach eine Attacke gegen ein Land als Angriff gegen alle gilt. Von 1991 bis 2021 sind die Militärausgaben der Nato-Länder um 19 Prozent gestiegen, die in Russland um 292 Prozent und die in China um 590 Prozent, in den USA um 60.
STANDARD: Das bedeutet, Europa muss aufrüsten?
Kallas: Europa ist ein so kleiner Kontinent, da können sich die Dinge rasch ändern. Nehmen Sie Österreich. Der Krieg in der Ukraine ist Österreich viel näher als uns in Estland, rein geografisch. Wenn wir alle gemeinsam nicht genug tun, um in Verteidigung zu investieren, in gemeinsame Fähigkeiten und Kapazitäten, dann könnte die Führung in Russland zur Ein-schätzung gelangen, sie könne einen Schritt weitergehen. Aber wenn sie sagen müssen, die sind stärker, werden sie keinen Krieg beginnen.
Der Krieg in der Ukraine werde noch lange dauern, glaubt Kaja Kallas. Die Führung in Moskau habe unterschätzt, wie stark die Ukraine militärisch sei.© Christian Fischer
STANDARD: Wurde der Krieg Russlands gegen die Ukraine Ihrer Einschätzung nach deshalb begonnen?
Kallas: Genau das ist in der Ukraine passiert. Die Führung in Moskau hat aber unterschätzt, wie stark die Ukraine ist. Sie glaubte an einen leichten Sieg in kurzer Zeit. Das ist mein Punkt. Es hängt nur von uns ab, ob wir stark genug sind.
STANDARD: Wie beurteilen Sie an dieser Stelle den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland?
Kallas: Das ist absolut wichtig. Es macht die Nato stärker. Es schafft ein neues Kraftzentrum im Norden. Für uns in Est-land, die wir keine Insel sind, heißt das, das Meer ist jetzt ein Meer der Nato. Die Allianz ist viel stärker geworden, also ab-solut auch die Solidarität. Warum haben Schweden und Finnland diesen Schritt gesetzt? Weil die Bedrohung real ist. Wa-rum hat Russland die Ukraine attackiert und nicht die baltischen Staaten? Weil wir in der Nato sind. Ich erkläre das in Schulen oft so: Wenn du viele starke Freunde hast, wird dich ein Rabauke nicht angreifen.
STANDARD: Wie sehen Sie das dann für Österreich? Sollte das Land die Solidarität über die Neutralität stellen, der Nato beitreten?
Kallas: Österreich, das ist für mich faszinierend. Wir haben völlig verschiedene Perspektiven. Wir waren früher beide neutral. Aber nur bei Österreich hat sich dieses Versprechen gehalten. Estland war neutral, wurde aber von zwei Großmächten überfallen und besetzt. Ich bezweifle, dass die Neutralität schützt, wenn es in Europa Krieg gibt.
STANDARD: Österreich hat in der Verfassung, dass es seine Neutralität bewaffnet schützt.
Kallas: Neutral zu sein bedeutet aber nicht, dass man dafür auch die Verteidigung ausbaut. In der Nato hängt alles von allen ab. Alle sollen zwei Prozent der Kosten übernehmen. Ich verstehe, dass es sehr schwer ist, der Bevölkerung in Fried-enszeiten zu erklären, warum sie für die Verteidigung viel Geld ausgeben soll oder gar in eine Militärallianz einzahlt. Ich könnte als Premierministerin auch sofort Dinge nennen, wofür man sonst besser Geld ausgeben kann.
STANDARD: Was meinen Sie?
Kallas: Wieder das Beispiel Estland. 1933 waren die Verteidigungsausgaben so niedrig wie nie. Es war friedlich, wie heute in Österreich. 1938 hat man die Militärausgaben zwar um hundert Prozent erhöht, aber es war zu spät. Wir verloren unsere Unabhängigkeit. Wenn man nur gute Nachbarn hat, wie Österreich heute, hat man nicht das Verständnis dafür. Aber das kann sich schnell ändern.
STANDARD: Einfache Frage: Soll Österreich der Nato beitreten?
Kallas: Es ist eine unabhängige Entscheidung Ihres Landes, die ich voll respektiere. Aber Österreich hat viel für die Ukraine getan, etwa durch Beiträge in der EU-Friedensfazilität, hat seine Beiträge geleistet.
STANDARD: Wird 2024 für das Schicksal der Ukraine entscheidend?
Kallas: Der Krieg dauert an. Wir sollten nicht in verschiedene Fallen hineinlaufen, die da aufgestellt sind. Ein Irrtum ist zu glauben, dass man den Krieg rasch gewinnen könnte. Russland stellt sich auf eine lange Periode des Kriegs ein. Er wird so lange dauern, bis Russland einsieht, dass es nicht gewinnen kann. Es gibt auch eine zweite Falle, den Glauben, dass man Frieden verhandeln könne. Wenn wir den Landraub akzeptieren, würden die Bedürfnisse von Russland befriedigt. Es ist nicht wahr, dass dann plötzlich alles friedlich wäre.
STANDARD: Warum?
Kallas: Es gibt auch die Falle der Angst. Russland spielt damit. Die vierte Falle liegt bei uns selbst, wenn wir sagen würden, unsere Maßnahmen würden die Russen nur weiter provozieren. Das Gegenteil ist der Fall. Schwäche provoziert Russland, nicht Stärke.
STANDARD: Kann die Ukraine 2024 verlorengehen, als souveränes Land verschwinden, weil Russland gewinnt?
Kallas: Die entscheidende Frage in einem Krieg ist, ob man genug Munition hat. Deshalb haben wir die Lieferung von einer Million Artilleriegranaten beschlossen. Die Ramstein-Koalition hat dreizehnmal so viel Budget wie Russland. Wir sind stärker, müssen aber der Ukraine helfen, sich zu verteidigen, ihnen geben, was sie brauchen. Und wir müssen an einen Sieg der Ukraine glauben, nicht das Narrativ, dass Russland sowieso gewinnt. Russland will uns glauben machen, dass die Ukraine nicht gewinnen kann, damit wir die Unterstützung einstellen.
STANDARD: Was wäre die Folge?
Kallas: Wir wären in einer Welt, in der die Macht bestimmt und nicht das Recht. Das ist sehr gefährlich. Ein Aggressor weckt dann andere Aggressoren. Wir würden dann erleben, dass in anderen Regionen, in anderen Teilen der Welt das glei-che passiert.
STANDARD: Befürchten Sie, dass sich die USA von Europa abwenden, sollte Donald Trump im November wieder Präsident werden?
Kallas: Wahlen sind immer turbulente Zeiten. Wir müssen mit den Alliierten weiterarbeiten, egal wen sie in ihre politische Führung wählen. Wir haben überlebt, als Donald Trump zum ersten Mal die USA führte. Wir würden es auch diesmal überleben, wenn es dann dazu kommt. Aber wir müssen schon jetzt, vor diesen US-Wahlen, alles für unsere eigene Verteidigung tun.
STANDARD: Auch in der EU gibt es Wahlen. Was erwarten Sie, einen Rechtsruck im Europäischen Parlament?
Kallas: In der Ukraine gibt es einen konventionellen Krieg, aber auch einen Schattenkrieg Russlands gegen unsere Gesel-lschaft. Es machte uns abhängig von Energie und nutzte das aus. Es gibt russische Desinformation zur Destabilisierung unserer Demokratien. Es wird also schwierig sein, die Stabilität zu wahren. Die Werkzeuge, die extreme Rechte anwenden, richten sich nicht nach den Regeln, die in unseren Verfassungen stehen.
STANDARD: Was können gemäßigte Parteien dagegen tun?
Kallas: Wir sollten nicht die Narrative der extrem Rechten übernehmen und sie damit zum Mainstream machen. Wir müssen unsere Demokratie auf allen Ebenen verteidigen. Demokratie braucht Vertrauen. Wenn dieses Vertrauen bei der Bevölkerung fehlt, gibt es Probleme bei Wahlen, dahingehend, wer dann an die Macht kommt.
STANDARD: Es gibt mit Ursula von der Leyen an der Spitze der Kommission und Roberta Metsola im EU-Parlament zwei Frauen, die wichtige EU-Institutionen führen. Sie waren einmal EU-Abgeordnete, wäre es für Sie reizvoll, wenn Sie Präsidentin des Europäischen Rates würden?
Kallas: Die Diskussion darüber wird nach den Wahlen geführt werden. Ich war sehr gern Europaabgeordnete, diese Vielfalt an Geschichte und Kulturen in Europa, das ist so faszinierend, anderen zuzuhören und selbst gehört zu werden. Ich würde für mich auf der europäischen Ebene absolut nichts ausschließen. Ich liebe Europa. (Thomas Mayer, 11.2.2024)
Kaja Kallas (46) ist Premierministerin von Estland und Chefin der rechtsliberalen Reformpartei, sie studierte Rechtswissenschaften. Sie führt seit 2021 ihre dritte Regierung, ein Bündnis mit Sozialdemokraten und Christdemokraten. Von 2014 bis 2018 war sie EU-Abgeordnete. Ihr Vater, Siim Kallas, war von 2004 bis 2014 EU-Kommissar, davor Premierminister, gründete 1994 die Reformpartei. Kaja Kallas Mutter und Großmutter wurden in Sowjetzeiten nach Sibirien deportiert.