Text für das Magazin
BERLIN BLOCK
Herausgegeben von Michael Pöppel und Heike Gläser
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Thema: Fremde sehen Berlin
Der fremde Blick
Beim ersten Schritt schon über die Gangway mischte Vertrautes sich ins Panorama. Überraschend und irrational - Berlin war mir im Jahre 1995 nicht fremd gewesen, sondern schmeichelte mir wie eine längst vergessene Geliebte. Sogar ihr Duft stahl sich mir unter die Haut, verlockend, wie die Aufforderung zum Playback jener Affäre. Eine Wolke von Wohlwollen lag folglich über der Stadt und alle darauf folgenden vermeintlichen und echten Grobheiten wurden in Frohsinn konvertiert. Erst mit Verzögerung stießen jene Biographien an die Oberfläche meines Bewusstseins, die dafür Verantwortung trugen.
Ihr Name war Elli gewesen, die Frau meines Onkels Franz. Die Berlinerin, auf einem Foto von 1940 mit weichgezeich-netem Antlitz, platinblond, die Augen melancholisch umschattet, den Blick ins Unsagbare gewendet, die vollen Lippen barmherzig geschlossen, war andererseits agil gewesen, energisch, auf sanfte Art verwegen, aber auch von humorvoller Eroberungssucht. Jedenfalls berlinerisch zur Potenz, was sich nicht nur in der Sprache ausdrückte, die sich dem Wienerischen verweigerte, scharf und kantig blieb, ein unerbittliches Werkzeug gegen jedes Geschwätz und den relativierenden „Wiener Schmäh“. Franz himmelte Elli an und folgte ihr Anfang der 50er Jahre ohne Zögern nach Ost-Berlin. Elli hatte Wien nicht ertragen. Es war ihr zu eng gewesen, zu stickig - provinziell.
Auf dem Weg von Tegel in die Stadt meinte ich meine Verwandten mehrmals wahrzunehmen, da und dort in einem der Graffiti beschmierten Haustore, aneinandergedrängt, in leiser Trauer mir bloß zuwinkend, weil wir uns ja doch niemals mehr die Hände würden reichen können. Beide starben an Lungenkrebs, beide waren starke Raucher gewesen, Filterlose, drei Schachteln pro Tag. Allmählich erst, nach dem Eintauchen in Berliner Alltäglichkeiten, und nach zahlreichen Er- kundungen von Ost-, und West-Topographien, Geschichts-Parcours, Bunkern, Museen und Aussichtsplattformen, um die Stadt ergründen, spüren und begreifen zu lernen, bekamen Franz und Elli echtes Profil. Vor allem nach Recherchen in den Archiven der Birthler Behörde verloren die beiden ihre idealisierte Kontur. Mutter hatte mir dereinst erzählt - und sah dabei restlos entmutigt drein wie immer, wenn es um Krieg und Leid gegangen war – daß ihr Bruder Franz, ehemaliger Boxer, Motorradfahrer, der Mann, der mir das Schwimmen bei brachte, der Held meiner Kindheit, angeblich für die STASI gearbeitet hatte. Hatte der Franz aber nicht. Nirgendwo fand sich ein Beweis, statt dessen gab es Akten über einen „Fehltritt“. Irgend jemand hatte ihn, den unübersehbaren Wiener mit der rauchigen Stimme, denunziert, Benzin aus der Firma für die er als Chauffeur arbeitete, für private Zwecke abgezweigt zu haben. Franz war es nicht gelungen, sich reinzuwaschen. Er hatte sich nicht mal einen Anwalt genommen, so überzeugt war er von seiner Unschuld gewesen. Allerdings kam er mit einer bedingten Verurteilung davon. Ob dies seinen Blick auf das DDR-Regime schärfte? Ob er glücklich gewesen war mit seiner Elli in Ost-Berlin? Liebe Elli, lieber Franz, auch ich bin meiner Umschwärmten nach Berlin gefolgt. Auch ihr war Wien zu eng, zu provinziell gewesen. Und sie teilt Eure Liebe zu Berlin. Doch eine Metropole, die dazu verdammt ist immerfort zu werden und niemals zu sein (Karl Scheffler) ist eine spröde Geliebte. Mit Verweigerung zu spielen, ist ihr eigentlicher Charme. Indes besitzen ihr Esprit, und ihre Agilität das Ansteckungspotential eines überaus gefährlichen Virus.