KOPFSTAND
The village VOICE, New York, May, 11, 1982 by Carrie Rickey
Ernst Josef Lauscher directorial debut with Headstand is a powerful portrait of a rebellious son, victim of tbe collusion between bis affronted mother and the police. They consign him to a psychiatric hospital where electroehock treatment jolts him out of his rebel past, leaves him without memory, but doesn't resolve his angst. Headstand epitomizes tbe adversary relation-ship between the young Viennese and corrupt authority figures, a chasm that Lauscher brilliantly depicts and finally bridges.
IL T E M P O
14. November 1981
Der österreichische Film bei der Viennale 1981 - ENTSTEHT MIT DEN JUNGEN -
Gespräch mit Ernst Josef Lauscher, Regisseur von "Kopfstand", Auszug -
...Jetzt befinden wir uns vielleicht am Vorabend eines historischen Zeitpunktes. Mit Zeichen die hie und da gerade bei der Viennale 81 - man spricht sogar von einem möglichen "Manifest" des österreichischen Filmes - sichtbar werden bei den Jungen, die endlich in die erste Reihe treten und mit einem Engagement, daß sich nicht nur in Worten ausdrückt. Das zeigt der 35-jährige Autor mit einem aufsehenerregenden Beispiel: "KOPFSTAND", hier mit großem Erfolg gezeigt und dazu bestimmt, mit aller Wahrscheinlichkeit ein Bezugspunkt zu werden für den österreichischen Film von Morgen. Nicht nur wegen des Themas (Ausgangspunkt ist die wahre Geschichte eines Jungen, der zuerst in einer Nervenheilanstalt endet und dann, um sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren in den Dienst einer älteren alleinstehenden Frau tritt, an die er sich in zärtlicher Zuneigung bindet und die zuletzt stirbt) sondern auch wegen der Art der Darstellung, wegen des neuen Stils - zwischen Lyrik und Chronik - und einer völlig neuen Frische im Panorama dieses Landes."Seit langem" sagt Lauscher,"hatte ich eine solche Idee für einen Film. Dann, kann man sagen, ist mir die Geschichte entgegen gekommen, ich hab sie im Leben gefunden."
Frage: Und mit welchen Vorsätzen des Stils, des Inhalts hast du sie entwickelt? Lauscher: Indem ich in der Erzählung zwei grundsätzliche Dinge beachtete: Die Erfahrung des Helden in der psychiatrischen Klinik und die Begegnung mit einer unbekannten und einsamen Frau. Zuerst wollte ich die zerstörende Wirkung des Gesellschaft zeigen. Ein psychiatrische Klinik hat katastrophale Wirkung für jene die hinkommen und so behandelt werden. Elektroschocks - eine Methode, keine Therapie. Und das zweite: der Held, Markus, fühlt sich frei, wie ein Vogel, der zuerst in einem Käfig war und jetzt diese Frau sucht, die sozusagen den Zyklus seiner Existenz vorerst beschlossen hat. Er tut es, um sich zu verwirklichen, um aus dem Gefängnis der Einsamkeit herauszukommen. Aber zum Schluß wird er wieder allein sein.
Frage: Deine Vorbilder ?
Lauscher: Keine Vorbilder, nur Regisseure als prinzipielle Bezugspunkte: Rosi, Fellini, einige Amerikaner, Tarkowsky, vor allem mit seinem Andrej Rublov. Im wesentlichen, um zwei Seelen, zwei Tendenzen darzustellen, eine, die mit der Aktualität, mit der Chronik verbunden ist, die andere mit der Phantasie, mit der Allegorie.
Frage: "Kopfstand" ist Schwarz/Weiß gedreht, war das eine künstlerische Wahl oder durch andere Motive bestimmt ?
Lauscher: Es ist eine sehr bestimmte Wahl, die mit dem Thema des Filmes zusammenhängt, welches eine sehr große Konzentration auf die Personen erfordert. Farbe hätte ablenkende Wirkung gehabt, außer man hätte sie wie Antonioni angewendet, indem man Nuancen und Variationen an die einzel-nen Momente der Erzählung anpaßt. Aber da der heutige Film fast zur Gänze in Farbe gedreht ist, kann man mit Schwarz/Weiß besser als in der Vergangenheit arbeiten.
Frage: Wie bist du zum Film gekommen ?
Lauscher: Das ist eine romantische Geschichte. 1968 habe ich mich in Wien in ein Mädchen verliebt, deren Mutter Tschechin ist. Ich hatte keine Arbeit und folgte diesem Mädchen nach Prag, wo sie als Schnittassistentin in einem Studio arbeitete. So bin ich auch zum Film gekommen, fast zufällig, aber ich habe sofort verstanden, das das mein Weg ist. Heute schneidet sie meine Filme.…
Claudio Trionfera
Ruhe im Karton
tip 1/83
Der Film „Kopfstand" des österreichischen Regisseurs Ernst Josef Lauscher erzählt die Geschichte von Markus (Christoph Waltz), der unbequem ist und daraufhin in die Klaps-mühle abgeschoben wird. Das schwarz/weiße Werk erinnert an die Anfänge der französischen „Neue Welle" Anfang der sechziger Jahre. Von Hans-Ulrich Pönack
In einer Spielhalle: Ein Junge interessiert sich für ein Mädchen, die dort als Kassiererin arbeitet; er hat Hemmungen, sie anzusprechen und wartet abends nach Feierabend vor der Tür, um sie nach Hause zu bringen. Sie ist der aktivere Teil, hat Interesse an dem Jungen, und man verabredet sich für den nächsten Tag. Zu Hause bei Markus. Die Mutter nörgelt herum. „Anständige Menschen liegen um die Zeit im Bett". Man fängt an zu streiten. „Im Haus reden's schon über uns", argumentiert Frau Dorn. Und: „Schau dich doch mal an, wie du daherkommst. Als wenn du irgendwo entsprungen wärst". „Freilich", stichelt Markus zurück. Dann beschuldigt sie ihn, Rauschgift zu nehmen. So einer wie er - das liegt doch auf der Hand, das sieht doch jeder. Markus wird sauer, bockig. „Du spinnst ja total". Und „räumt" dann den Tisch ab. Es kommt zu einem kleinen Handgemenge. „Der ist ja verrückt", äußert sich der hinzukommende Freund der Mutter, der auch in der kleinen Behausung wohnt. Schnitt. Markus liegt im Bett. Die Polizei kommt. Die Mutter hat tatsächlich die Polizei geholt. Ihrem Freund, Herrn Hubert, scheint das gar nicht so unlieb, da die Wohnung für drei ohnehin zu eng ist. Vernehmung bei der Obrigkeit. Es hat überhaupt keinen Sinn, daß du bockig wirst, wenn du es dir bequem machen willst. Je schneller dir was einfällt, um so schneller kannst du wieder gehen, versucht man ihn zu locken. Der Beamte will Namen. Woher das Rauschgift stammt? Wer sonst noch daran beteiligt ist? „Freundliches Ent-gegenkommen" würde man schon honorieren, wird Staatlicherseits signalisiert. „Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen", klingt es trotzig zurück. Markus versucht klarzumachen, daß das mit dem Rauschgift nur so eine fixe Idee von der Mutter war. Natürlich glauben sie ihm nicht. Tätlicher Angriff gegen die Mutter, Einschränken der persönlichen Freiheit, das ist Gemeingefährlichkeit, stellt schließlich der Oberpolizist amtsmäßig fest. Aber bitte - „sobald du uns ein paar Namen sagst, kriegst du eine Chance", wird noch einmal gut zugeredet. Markus lapidar: „Der eine heißt John Lennon".
Überführung in eine Klinik, genauer: in eine psychiatrische Anstalt, die Klapsmühle. Schwarz-weiße lange Gänge mit kahlen weißen Wänden, Gittern an den hohen Fenstern und desinteressiertem, mißmutigem Personal. Ab und an Schreie hinter den geschlossenen Türen. Alles hier ist düster und deprimierend. Wer hier reinkommt und noch nicht ganz fertig ist, hier wird er's bestimmt. Wenn einer aufmuckt, kommt sofort der Chefarzt mit der Spritze. Und schon ist die Ruhe wieder hergestellt.
Der Junge freundet sich mit zwei Bettnachbarn an. Die sind hier, weil sie draußen nicht mehr zurechtkamen, sich wundgescheuert haben am Alltag. Und dann ist da noch Karl, der Alte. „Ich bin zu alt für draußen." Der hat längst aufgegeben. Mit dem hat niemand Schwierigkeiten mehr. „Depressionen?", fragt der Oberheiler bei der Visite. Die hat doch jeder, Sie nicht, gibt Markus von sich. Für Dr. Melzer steht damit fest - der ist gemeingefährlich, schizophren. Vor so einem muß die Welt beschützt werden. „Ich will nach Hause, mir fehlt nichts", fordert der Junge nochmals nachdrücklich. Den Ton kannst du dir hier gleich abschminken, tönt es hilfreich retour. Und der Pfleger ergänzt höflich: „Du Arschloch, ich mach aus dir eine Nummer, damit wir schauen, daß aus dir wieder ein Mensch wird."
Markus wird mit Elektroschocks behandelt. Drähte und Eisenmetallstäbe werden fest am Kopf angebracht, und ab geht der freundliche Strom durch den Körper. Und Markus hüpft vor Freude über soviel Volt im Bett auf und ab. Die Mutter kommt zu Besuch. Um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, hat sie sich eingeredet, dies hier sei so etwas wie ein Fitness-Center für die Konditionierung zu anständiger Bürgerlichkeit. So was wie Bundeswehr, wenn man gesund ist. Und der Arzt-Oberst gibt ihr sogleich recht. Markus sei nach wie vor renitent, störe den normalen Behandlungsablauf, im übrigen auch schon bei anderen Patienten: „Wir müssen ihn ruhigstellen. Schon in seinem eigenen Interesse." Darüber hinaus werde sich in den nächsten Tagen auch eine Gerichtskommission mit ihm befassen.
Markus haut ab. Ein Freund hilft mit etwas Geld weiter, bei dem Mädchen aus der Spielhalle kommt er für eine Nacht unter, dann sorgt ihr Freund am nächsten Morgen dafür, daß sie den Jungen wieder kriegen. (An dieser Stelle etwas zum Schauspieler Christoph Waltz: Eine wunderbare Entdeckung. Mit sparsamen Gesten und wenigen Worten versteht er es, sich mit diesem Jungen, dieser Un-Person, zu identifizieren. Man hat nie Zweifel, daß sich hier der „wirkliche" Markus Dorn zeigt. Man muß manchmal an den jungen Jean-Pierre Leaud aus den frühen Truffault-Filmen denken.) Dennoch schafft er es, nochmal abzuhauen. Diesmal gelangt er sogar bis zur Mutter. Er bittet um Hilfe, Beistand, Verständnis, aber sie macht sich Sorgen um die Gedanken der Nachbarn. Zudem hat Freund Hubert auch noch ein Wörtchen mitzureden. Paranoia, lautet nunmehr die Diagnose, nachdem der Junge in die Anstalt zurückgebracht wurde. Wo sich eine neue Ärztin für ihn interessiert. Sie macht ihm klar, daß er entmündigt wurde: „Du bist rechtlich jetzt einem Kind von sechs Jahren gleichgestellt." Frau Dr. Rene aber läßt es damit nicht auf sich beruhen. Sie kümmert sich eingehend um die medizinische wie private Geschichte von Markus Dorn. Sie spricht viel mit ihm, und sie nimmt auch Kontakt mit der Mutter auf. Daß der Junge dann tatsächlich rauskommt, ist vor allem ihr zu verdanken.
Happy End? Friede, Freude, Eierkuchen? Die weiterhin schlichten, strengen Schwarz-weiß-Bilder weisen diese Vermutung sofort von sich, Regisseur Lauscher bleibt hart an seinem Film. Fügt ihm eine weitere Handlungsstränge zu. Denn für Dr. Rene war es nicht nur wichtig, den Jungen wieder für den „normalen" Alltag herauszubekommen, sie hilft ihm im Hintergrund auch weiter. Weil der Junge Hilfe braucht. Er ist kräftemäßig am Ende, bricht oftmals zusammen, ist im Augenblick zu keiner geregelten Arbeit mehr fähig. Schon gar nicht in seiner Lehre als Friseur. Die Ärztin vermittelt ihm die Begegnung mit einer älteren Frau, die irgendwo außerhalb alleine in einem großen Haus wohnt. „Ich brauche nichts mehr", wehrt die sich anfangs. Um dann doch ein bißchen zufrieden zu sein, daß sie endlich einmal mit jemandem reden kann. Und manchmal sogar auch lachen: „Merkwürdiges Gefühl; als wenn man es wieder lernen müßte." Der Regisseur und Autor Ernst Josef Lauscher: „Daß er schließlich auf Menschen trifft, sich ihn fast zum Ziel nimmt, der alt und einsam ist, ist kein Zufall. Denn wie kaum anderswo haben wir auch unsere Alten verstört, weggeschoben, verdrängt. Mehr als irgendeine andere Beziehung gibt Markus' Freundschaft mit der alten Dame ihm den Mut zurück, den er fast verloren hatte."
Es ist kein Zufall, daß einem laufend die Anfänge der französischen „Neuen Welle" Anfang der Sechziger in Erinnerung kommen. „Kopfstand" hat etwas mit Godard, Truffault, Rohmer von damals zu tun. Das karge, freudlose Schwarz-weiß, die kurzen, knappen Dialoge, die Sprache der Blicke, der Bewegungen, der Mimik, die interessanten, neuen, unbekannten Gesichter der Beteiligten — das ist Kino, das wieder Hoffnung macht. Weil es von Menschen erzählt und nicht von Dingen. Weil es zugleich spannend ist und betroffen macht.
Der 35jährige Wiener Filmemacher Ernst Josef Lauscher zu seiner ersten Spielfilmarbeit: „Man kann sehr vieles über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sieht, wie sie mit ihren Kranken, mit ihren Gestörten, mit ihren Außenseitern umgeht. Die beste Lösung in ihrem Sinne scheint zu sein, das Problem zu verdrängen, die Betroffenen wegzusperren, weg aus dem Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit, die auch zu bequem geworden ist zu akzeptieren, daß Krankheit, Verrücktheit, Außenseitertum zu ihr gehören. Teil ihres Gefüges, ihres Zustandes, ihrer Verdrängung, Teil des Prozesses ihrer Entwicklung oder Stagnation sind. Schlimm ist doch, wenn ein Unschuldiger eingesperrt wird. Schlimmer ist noch, wenn einer, der normal ist, für verrückt erklärt wird. Aber was ist Normalität, was Verrücktheit?"
Hans-Ulrich Pönack
Süddeutsche Zeitung
Mittwoch, 4. Mai 1983
Weg mit Schaden
Der österreichische Psychiatrie-Film „Kopfstand*
Wer nicht anständig ist, der gehört in die Anstalt. Also alarmiert die hilflos empörte Mutter die Polizei" und laßt den unbotmäßigen Sohn, der nächtens Aufruhr und Lärm in die Eßküche getragen hat, abtransportieren. Der Hausfreund sieht es mit Wohlgefallen, und den Beamten ist wie allen Beteiligten klar, daß, wenn langhaarige Friseurlehrlinge lärmen, nur Drogen im Spiel sein können.
Dem Sohn Markus werden die Ärzte schon das Unnormale austreiben und in der Heilanstalt einen netten Bürger aus ihm machen, denkt sich die Mutter und ist dann beim ersten Besuch doch ein wenig entsetzt, wie ihr Markus unter ruhiggestellten Patienten dahinvegetiert. Doch da ist es schon zu spät. Das Krankheitsbild des Sohnes haben die Ärzte bereits diagnostiziert; schlampig, routine-mäßig und uninteressiert haben sie aus pubertärem Aufbegehren einen Fall konstruiert und die tägliche Ration aus Pillen und Elektroschocks festgesetzt.
„Wie einer zufällig mit dem Leben davonkam" haben der 35jährige Regisseur Ernst Josef Lauscher und sein Produzent und Ideenlieferant Götz Hagmüller ihren schwarz-weißen Kinofilm Kopfstand im Untertitel genannt. Und schwarzweiß sind nicht nur die ausgefeilten Bilder (Kamera: Toni Peschke), sondern auch die Geschichte. Da gibt es zunächst nur bornierte Mediziner, spießige Bürger und Unverständnis auf allen Seiten. Und auch wenn man weiß, daß 1981, als der Film entstand, Psychiatrie in Österreich durch eine Reihe ähnlicher Skandale zum Reizwort geworden war, es scheint alles ein wenig zu dick aufgetragen. Doch haben Hagmüller und Lauscher, die ursprünglich eine Dokumentation zum Thema drehen wollten, lange und sorgfältig recheriert Für die Spielfilmlösung entschieden sie sich, weil es ihnen unmöglich gemacht wurde, in psychiatrischen Anstalten, also dort, „wo das Schicksal eines Patienten entscheidend mitbestimmt wird" (Lauscher), ihren Film zu drehen.
Ein Markus Dorn, der zufällig in eine Anstalt gerät, wie sie in Kopfstand sorgfältig und mit ruhiger Empörung gezeigt wird, wäre schon zuviel. Und es gibt mehr als einen. „Man kann sehr vieles über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sieht, wie sie mit ihren Kranken, mit ihren Gestörten, mit ihren Außenseitern umgeht", sagt Regisseur Lauscher. Nun ist das alles nicht neu, und bei einem engagierten Spezial-Publikum in den Programm-Kinos gehören Filme zum Thema Psychiatrie seit längerem zu den heimlichen Hits.
Kopfstand ist zum Glück aber nicht nur ein engagierter Film, sondern auch ein sehr schöner und menschlicher, der in dunkelgrauen Bildern, dunkelgrau wie der Alltag der Anstalt, erzählt, wie sich einer trotzig widersetzt und dann doch noch überlebt. Eine neue, junge Ärztin erkennt, daß Markus zu Unrecht und falsch behandelt wird und erreicht schließlich, daß Markus entlassen wird.
Wieder draußen, kann der sich freilich kaum noch zurechtfinden. Sein Leben bekommt erst wieder einen neuen Impuls, als ihn das Sozialamt mit einer anderen Außenseiterin zusammenbringt Lydia, eine einsame, alte ehemalige Schriftstellerin, nimmt ihn bei sich auf. Vor ihrem baldigen Tod gelingt es den beiden Schwachen noch, sich gegenseitig aufzurichten. In dieser zweiten Spielhälfte schaffen Regisseur Lauscher und seine beiden Darsteller Christoph Waltz als Markus und Elisabeth Epp als Lydia anrührende Szenen der Solidarität. Daß Markus auf Lydia trifft, sagt Lauscher, „ist kein Zufall. Denn wie kaum anderswo haben wir auch unsere Alten verstört, weggeschoben, verdrängt."
Kopfstand ist ein Film, aus dem man mit neuem Mut herauskommt. (In München im Theatiner.)
BODO FRÜNDT
PROFIL Wien 1.2.1982
Ernst Josef Lauschers „Kopfstand"
Zufällig überlebt
In seinem bemerkenswerten Kinodebüt „Kopfstand" schildert der Wiener Ernst Josef Lauscher, wie jemand in der Psychiatrie landet und trotzdem davonkommt.
Spätnachts kommt der Junge nach Hause. Er holt sich Essen aus dem Eiskasten und trommelt spontan mit Messer und Gabel auf Teller, Bierflasche und Tischplatte. Der Lärm treibt seine Mutter ins Wohnzimmer. Sie verdächtigt ihn, Rauschgift genommen zu haben; plärrt ihn an; und ihr kurzer Wortwechsel endet in einer Prügelei.
Wenig später hockt der Friseur Markus Dorn in einer Wachstube. Er wird von zwei Polizisten verhört, bei einem Ausreißversuch zusammengedroschen und noch in derselben Nacht in die Psychiatrie eingeliefert.
Markus Dorn ist kein Einzelfall, sondern nur einer von vielen, die heute immer noch ohne besonderen Grund in psychiatrischen Anstalten landen. Sein Schicksal - ergänzt durch die Erlebnisse anderer Psychiatrieopfer - hat der Wiener Regisseur Ernst Josef Lauscher, 35, in seinem ersten Kinofilm „Kopfstand" nachvollzogen. Traurig-sarkastischer Untertitel des bemerkenswerten Debüts: „Wie einer zufällig mit dem Leben davonkam."
Der Film, mit sparsamstem Budget in effektvollem Schwarzweiß gedreht, zeigt chronologisch einen medizinischen Kaputtmacheversuch. Denn die Filmfigur Dorn (den Namen des wirklichen Opfers will Lauscher begreiflicherweise nicht preisgeben) ist weder drogensüchtig noch geisteskrank, sondern bloß mit seinem Dasein unzufrieden. Die äußeren Ursachen: Das Mädchen an der Wechselkassa in der Prater-Spielhalle, das ihm gefällt, hat schon einen Freund. Und zu Hause macht sich der faschistoide Liebhaber seiner Mutter breit, der Markus (Christoph Waltz) längst als Störenfried abgestempelt hat.
Dieser Exposition in knappen, dunklen Einstellungen, die in der an sich lächerlichen Auseinan-dersetzung mit der Mutter und Markus' Einweisung eskaliert, folgt Lauschers eigentliche Geschichte. Denn kaum hat der Junge seine Jeans und seine schwarze Lederjacke mit der gestreiften Anstaltsuniform vertauscht, ist er der weißgetünchten, sterilen Unmenschlichkeit der Klinik ausgeliefert. Dort muß er zusehen, wie Kranke ohne viel Aufhebens niedergespritzt werden. Er erlebt, wie ein skrupelloser Oberarzt (der verdächtig an einen bekannten Wiener Psychiater erinnert) gar nicht mit sich reden läßt. Und erfährt die Behandlungsmethoden am
eigenen Leib: Weil sich Markus beharrlich weigert, seine Pillen zu schlucken, kommt er unter die Elektroden.
Trotz dieser brutalen, veralteten Therapieformen, mit denen Lauscher radikal abrechnet, bleibt in seinem kühlen, grellen Klinikambiente menschliche Wärme nicht auf der Strecke. Da ist Karl (Alfred Solm), ein alter Mann, der sich für das Leben draußen mittlerweile zu unsicher fühlt. Und da freundet sich Markus auch mit Stunk (Pavel Landovsky), einem an Liebeskummer leidenden Ausländer, an. Gemeinsam mit ihm darf er in einer der schönsten Szenen des Films eine Holzhütte im winterlichen Anstaltsgarten streichen - Markus wie ein Profi, Stunk versponnen-verträumt.
Dieser starke Kontrast zwischen Menschlichkeit und Repression, zwischen Verständnis für Außenseiter und ihrer Entwürdigung ist ein Hauptthema von Lauschers dicht inszeniertem Erstlingsfilm. Denn so sehr sich Markus auch wünscht, draußen akzeptiert zu werden, schlägt dies fehl. Sein erster Fluchtversuch endet am nächsten Morgen, weil ihn der Freund des Spielhallenmädchens der Polizei ausliefert. Und beim zweitenmal läßt ihn der Lebensgefährte seiner Mutter zurück in die Anstalt bringen.
Doch auch nach seiner Entlassung durch eine verständnisvolle junge Ärztin sind Markus' Probleme nicht gelöst. Wie die meisten Psychiatrieopfer hat er es schwer, sich in der wiedergewonnenen Freiheit zurechtzufinden. Als Spätfolge der Zwangstherapie sackt der Junge immer wieder zusammen und kann keiner geregelten Arbeit nachgehen. Bis ihm die Fürsorge einen passenden Job vermittelt: Er soll sich um eine völlig vereinsamte alte Dame (Elisabeth Epp) kümmern.
Genau ab dieser Begegnung, die Markus zunehmend ins Leben zurückholt, vermengt Lauscher geschickt Realismus mit filmischer Poesie. Das kurze Zusammentreffen des Jungen mit der Alten, die nicht mehr lange zu leben hat, ist wie ein Kammerspiel in Zartbitter inszeniert. Und wird getragen von dem ungemein intensiven Spiel der beiden Hauptdarsteller.
Diese Szenen, im Tempo ganz bewußt viel langsamer und zärtlicher als die knallharten, knappen Psychiatriesequenzen, vermitteln auch die Hauptbotschaft dieses Films. Denn dort reagieren zwei Außenseiter unserer Gesellschaft trotz ihrer Sorgen und unterschiedlicher Vorstellungen aufeinander so, wie es Ärzte eigentlich Patienten gegenüber sollten. Nicht von ungefähr hat der Regisseur seinen Film dem Vorkämpfer für freie Psychiatrie, dem inzwischen verstorbenen Italiener Franco Basaglia, gewidmet.
KARL KHELY
neue filme
Stern 4. Nov. 1982
Horror im Hospital
„Kopfstand". Ursprünglich sollte der Film „Krank II - Geisteskrank" heißen und eine Dokumentation über die Zustände in psychiatrischen Anstalten - volkstümlich: Irrenhäusern - werden. Aber weil Ärzte und Pfleger fürchteten, ihre Behandlungsmethoden könnten als unmenschlich empfunden werden, und weil ehemalige Patienten Angst davor haben, durch öffentliche Kritik wieder als krank eingestuft und deshalb eingesperrt zu werden, scheiterte das Projekt.
Auf der Grundlage des zusammengetragenen Materials hat der 35jährige österreichische Regisseur Ernst Josef Lauscher daraufhin einen Spielfilm gedreht, ein düster-trauriges Stück, in dem Erfahr-ungen, Lebensgefühl und Hoffnungen vieler Jugendlicher am Beispiel eines vermeintlich Kranken sichtbar und nachfühlbar gemacht werden.
Da ist die schmerzhafte Sprachlosigkeit zwischen Eltern- und Kindergeneration. Der Friseurlehrling Markus leidet unter der lieblosen Enge seines Zuhauses. Seine Mutter, die nur auf die Nachbarn und ihren spießbürgerlich-brutalen Freund Rücksicht nimmt, findet keinen Zugang zu ihm. Nach einer Auseinandersetzung glaubt sie sich nicht mehr anders helfen zu können, als den Sohn von der Polizei ins Irrenhaus bringen zu lassen. Dort soll er von seiner unverständlichen und als krank empfundenen Aufsässigkeit geheilt werden.
Den Eingriff der Macht, der staatlichen Institution, erlebt Markus als Versuch, seine Persönlichkeit zu brechen, als Vergewaltigung, der er hilflos ausgeliefert ist. Er wird mit Elektroschocks behandelt und mit Psychopharmaka vollgepumpt. Alles steht auf dem Kopf. Weil er erklärt, gesund zu sein, gilt er, als krank. Je mehr er sich gegen die Behandlung wehrt, desto geringer sind seine Chancen, die Anstalt jemals wieder zu verlassen.
Daß er schließlich nach einigen Monaten doch freikommt, verdankt er einem Zufall: Eine Ärztin, die an das Krankenhaus versetzt wird, erkennt, daß er zu Unrecht eingeliefert worden ist.
Schwer geschädigt wird er entlassen. Mit der Freiheit kommt er jetzt nicht mehr zurecht. Erst als er auf eine vereinsamte alte Frau trifft, der er hilft, ins Leben zurückzukehren, findet er allmählich zu sich selbst zurück. „Merkwürdiges Gefühl, wieder zu lachen", sagt da der eine seelische Krüppel zum anderen, „als wenn man's wieder lernen müßte."
Generationenkonflikt, Persönlichkeitsbedrohung durch eine übermächtige Institution, Selbsthilfe der Außenseiter als letzte Rettung das wären drei verschiedene Geschichten für drei verschiedene Filme. Einzeln wären sie auch stärker. Aber da von jedem etwas im
Gedächtnis bleibt - vom ersten die Verzweiflung, vom zweiten der Zorn und vom dritten die Hoffnung -, ist die Wirkung noch immer durchschlagend genug.
Hagen Rudolph
AUF DIE LEINWAND:'
„Kopfstand"
Mit seinem ersten Spielfilm ist dem österreichischen Regisseur einiger Kurzfilme und Fernseh-spiele, Ernst Josef Lauscher, ein bemerkenswertes Kinodebüt gelungen. Denn mit seiner Geschichte eines auf Grund einer Fehldiagnose in der psychiatrischen Anstalt festgehaltenen Jugendlichen hat er mit eindringlich-subtiler Regie einen authentischen Fall. äußerst filmwirksam geschildert. Weit entfernt von jeglichen, spekulativ auf Schock-Wirkungen setzenden Methoden anderer Psychiatrie-filme wie etwa, „Einer flog über das Kuckucksnest", verläßt sich Lauscher eher auf die leisen Töne, auf langsames Tempo und, überraschend sicher: gehandhabt; auf die effektvolle Düsternis seines Schwarz- Weiß-Materials.
Hat der Zuschauer die etwas knapp geratene Begründung für die die Einweisung akzeptiert, in der das Verhalten der Mutter nach kurzer nächtlicher Auseinandersetzung mit dem Sohn gleich die Polizei zu holen, kaum motiviert erscheint, wird er sich: bereitwillig auf das eigentliche Thema des Films einlassen. Es ist das unmenschliche Klinikleben, dessen Tage dahinzuschleichen scheinen, ohne Abwechslung, ohne Höhepunkte, sondern in der ständigen Bedrohung, verbracht, für auffäl-liges Verhallten in der Anwendung grausamer, konservativer Therapiemethoden mit Medikamenten und Elektroschocks gedämpft zu werden. Aus dem impulsiven, völlig gesunden Jungen wird mit der Zeit ein stiller, apathischer Patient, der in Schlafanzug und Bademantel durch die Anstaltsgänge schlurft oder teilnahmslos in irgendeiner Ecke kauert. Trotzdem, gelingen ihm zwei Fluchtversuche! doch beide Male wird er in die Anstalt zurückgebracht. Der Junge, inzwischen sogar entmündigt, verdämmert sein Lehen weiterhin in der Anstalt. Nur in den Kontakten zu einigen Mitpatienten flackert manchmal so etwas von liebevoller Fürsorglichkeit auf, einer Eigenschaft, die er erst später voll ausleben kann. Denn endlich gelingt es einer jungen Ärztin, seine Entlassung zu erwirken.
Doch leicht ist das Leben nach solchen Erlebnissen nicht wieder in den Griff zu bekommen. Die »normale" Welt, das turbulente, laute Wien, dringt aggressiv, und fordernd auf ihn ein; aber , mit Arbeitseifer und frischem Zupacken allein ist es nicht getan. Der Junge bricht immer wieder zusammen, ist noch nicht arbeitsfähig. Erst die sich ungemein sensibel entwickelnde Begegnung mit einer alten, vereinsamten Schriftstellerin bringt ihn wirklich ins Leben zurück.
Es ist erschütternd zu sehen, wie die beiden Hilflosen, Draußenstehenden", durch gegenseitiges Vertrauen und Sympathie wieder sicher, selbstbewußt und lebensmutig werden. Auch wenn hier, mit diesem' letzten Teil des Films scheinbar ein ganz neues Thema angeschlagen wird, das der sozialen Verantwortung für Alte und Hilfsbedürftige, ergibt sich gerade durch diese Ergänzung der sanften Szenen zur Härte der vorhergehenden ein überzeugend abgerundetes Bild unserer gesellschaftlichen Situation. (Filmkunst 66)
Carla Rhod
KURIER Wien
FREITAG, 5. FEBRUAR 1982
Pessimistische Elegie, optimistisches Ende
„KOPFSTAND." Österreich. Von Ernst Josef Lauscher. Mit Christoph Waltz, Elisabeth Epp, Pavel Landovsky, Heinz Petters (FLOTTEN-, KOLOSSEUM-CENTER).****
Nach einem wahren Fall schildert Ernst Josef Lauschers erster Spielfilm die verheerenden Folgen eines Generationskonflikts. Wenn Erziehen für hilflose Eltern heißt, jungem Aufbegehren brutales Niederschmettern entgegenzusetzen. Und sich gewissenlose Psychiatrie die Fälle (zurecht)macht, die sie zu brauchen meint: Psychiatrie also als Strafvollzug an Unschuldigen.
Das Schicksal eines Burschen, den eine Verkettung unseliger Umstände und unmensch-licher Zustände fast in echten Wahnsinn oder zu Tode hetzt, gestaltete der 34jährige Wiener Lauscher zu einem weiteren Meilenstein in der jungen Geschichte des neuen österreichischen Films. Nur durch Zufall indem der Filmemacher Götz Hagmüller dem Kollegen seine Subventionsgelder uneigennützig überließ - konnte eine der eindringlich-sten, außergewöhnlichsten und wertvollsten Filmproduktionen der letzten Jahre hierzulande überhaupt erst entstehen.
Obwohl mit billigem Schwarzweißmaterial gedreht, muß diese pessimistische Elegie mit optimistischem Schlußpunkt der Farbe nicht entbehren: Wutrot, Depressionsblau, trag-isches Violett und schließlich Hoffnungsblau malen die melodramatischen Stimmungs-bilder einer die Ereignisse hartnäckig verfolgenden Kamera. So hartnäckig, daß sich der Zuschauer oft selber betroffen meint.
Ein leiser, den Ablauf etwas störender Riß zwischen den tragenden Handlungsmauern: Die Chronik vom störrischen Burschen, den eine tätliche Auseinandersetzung mit dem Freund der Mutter auf der Wachstube und in der Folge in den zermalmenden Mühlen psychiatrischer Willkür landen läßt, hat ein poetisches Nachspiel. Als Helfer einer in totaler Einsamkeit verunglückten, seelenkranken alten Frau baut er sich den verlorenen Lebehssinn und Lebensmut wieder auf. Versöhnliche Pointe, daß einer im Helfen Selbsthilfe findet. Fast absichtslos, wie nebenbei, klagt Lauscher fragwürdige Irrenverwahrung ebenso an wie eine ihre Jugend- und Altenprobleme an Medizin und Sozialarbeit verdrängende Gesellschaft.
RUDOLF JOHN
ARBEITERZEITUNG Wien
Freitag, 5.2.1982
Kopfstand Schwarzweißfilm, Österreich, 102 Minuten. Regie: Ernst Josef Lauscher
Mit: Christoph Waltz, Ingrid Burkhard, Elisabeth Epp. Pavel Landovsky
(Flotten-Center)
Ein renitenter Ausbruch des jungen Markus daheim bringt ihn in den Verdacht, rauschgiftsüchtig zu sein. Einlieferung in die Psychiatrie. Seine Unfähigkeit,, sich der Ordnung einer Anstalt zu unterwerfen, in der Menschen bloß verwahrt statt geheilt und Normale wie Anormale behandelt werden, veranlaßt ihn zu einem Fluchtversuch, doch wird er wieder zurückgebracht Erst das Aufscheinen einer verständnisvollen Ärztin erleichtert ihm die Situation, führt schließlich zu seiner Entlassung.
Über die Vermittlung durch die Fürsorge darf er sich einer vereinsamten alten Dame als Betreuer annehmen. Nach einmal überwundenem ersten Mißtrauen bahnt sich eine rührende Freundschaft . zwischen den beiden so verschiedenaltrigen Menschen an, die aber beide sich von einer „Verwah-rungsgeselschaft" sozial verwahrlost fühlten. Das zarte Bündnis trägt noch etwas Licht der Erinnerungen in ein verlöschendes Leben - und öffnet Markus mit der Aufhebung der Entmündigung den Weg ins Leben. Lauschers Film, in der AZ wiederholt hervorgehoben, ist von einer schlichten Schönheit, die sich schwer analysieren läßt: Das trägt sich alles so schmucklos richtig vor, leuchtet die verschie-dentlichsten sozialen und psychologischen Probleme so an, wie sie sich stellen, ohne daß die Kamera einen artifiziellen Blickwinkel aussuchte. Und wunderschön, wie sich dabei auch aus dem Unmenschlichen und Allzumenschlichen das rein Menschliche herausschält, das dann doch Brücken baut und nicht alles in Trostlosigkeit verenden läßt. Ein Film, der von innen leuchtet.
Fritz Walden
ORF Wien, Pressedienst Fernsehen
Zur Sendung „KOPFSTAND“ Mittwoch 30. Jänner 1983, 22.30 FS2
Der "Große Preis der Jury" beim internationalen Festival des jungen Films in Hyeres/Frankreich, 1982, ein italienischer Schauspielpreis für Pavel Landovsky, der in "Kopfstand" einen Patienten spielt, und das österreichische Prädikat "besonders wertvoll" waren die Auszeichnungen, die der auch von den Kritikern hochgelobte Film erhielt. "Klare erzählerische Linien, ausgezeichnete schauspielerische Leistungen und großartige Schwarzweiß-Photographie", wußte auch die US-Zeitschrift "Variety" zu loben.
ZEITGENOSSEN
Das Britische Filminstitut, London, 1983 „...Michangelo Antonioni meets Black Edwars.“
GEGENSCHUSS - Kinozeit Nr. 11 4/83
Maradona in Unterpremstätten von Nikolaus Leytner
In der österreichischen Filmlandschaft sprießt und grünt es, allerorten zeitigt das cineast-ische Frühlingserwachen eine erstaunliche Flora — derweilen noch im Glashaus der staatlichen Filmförderung. Doch noch während die mühsam gesäten Pflänzchen verhalten treiben und knospen, wirft man in besagtem Glashaus schon mit Steinen: Was sich die österreichische Kritikergilde im Zusammenhang mit den letzten heimischen Produktionen geleistet hat, ist geeignet, ihr vorerst einmal die Qualifikation zu einem ernstzunehmenden Kinofeuilletonismus rundweg abzusprechen.
Als Beispiel sei ein Film zitiert, den ich für nichts weniger als einen der reifsten und internationalsten Streifen halte, der je in Österreich produziert wurde: Ernst Josef Lauschers satirisch-nervöses, trauriges Neurotiker-Panorama „Zeitgenossen".
Wie bekannt, fand sich die heimische Kritik - fast ausnahmslos - in Unverständnis und Enttäuschung vereint. Wie bekannt, hielt sich der Film daraufhin kaum zwei Wochen in den Lichtspieltheatern. Kaputtkritisiert. Was war passiert?
Lauscher drehte im Vorjahr - nahezu unbeachtet und im Schatten der hiesigen Größen wie Novotny oder Glück - mit selbst für alpenländische Verhältnisse läppischen 800.000 Schilling sein stilles und eindringliches Kinodebüt „Kopfstand". Und landete, gelinde gesagt, einen Sensationserfolg: Die Journaille taumelte geschlossen von einer Lobtirade in die nächste, ein wahrer „Sternderlregen" ging auf die „Low Budget"-Produkton nieder. „Kopfstand" mobilisierte europaweit alle möglichen und unmöglichen Superlative und lief unter anderem, was keinem österreichischen Film in den letzten Jahrzehnten gelang, geschlagene 6 Wochen in Berlin.
„Kopfstand" ist nun ein Film, dessen Problematik präzise abgegrenzt und in einem Satz wiederzugeben ist. „Kopfstand" ist ein Film, der von einem klassischen (Anti-)Helden, mit dem man mit dem man mitleben, sich identifizieren kann, getragen wird. „Kopfstand" ist ein Film mit einer starken, dramaturgisch geradlinig erzählten Story. „Kopfstand" ist - ohne damit seine Qualitäten schmälern zu wollen - unschwer einzuordnen, etikettierbar. Und das, so scheint´s, euphorisierte die Kritik. Weil, so wage ich zu unterstellen, es ihr leicht gemacht wurde.
Mit (ihren) „Zeitgenossen" konfrontiert, reagierte sie verstört, gleich einem kleinen Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Weil dieser Film so ganz anders ist, als „Kopfstand" und als erwartet: Lauscher spürt darin den Großstadtvergiftungen von fünf recht unterschiedlichen Zeitgenossen nach - einen als solchen deklarierten Helden gibt es nicht. „Zeitgenossen" wird verästelt, zersplittert erzählt - eine Geschichte im gängigen Sinn wird verweigert. „Zeitgenossen" entzieht sich auch allen ach so handsamen Kategorien - weder die Aufschriften „Komödie" noch „Problemfilm" wollen so recht passen. Wie das Leben so spielt.
Das haben die Herren Kollegen wohl nicht verkraftet: „Ja, darf er denn das überhaupt?" Er darf. Und es zählt zum erfreulichsten, daß er es auch kann. Denn was und wie Lauscher erzählt, hat ein Format, das den „großen Horizont" der heimischen Schreiberlinge offensichtlich übersteigt: seine „Zeitgenossen" sind ihrer Zeit um einiges voraus.
Daß die Fähigkeiten der hiesigen, in sich verschworenen Rezensentenclique im Mittelalter zurückgeblieben sind, nötigt die österreichischen Filmautoren der Neu-Zeit - legen sie Wert darauf, weitermachen zu können - zum „Kinematographikus interruptus". Denn wie entscheidend eine fundierte nationale Filmkritik, die auf der Höhe ihrer eigenen Film-schaffenden ist, für ein filmfreundliches, fruchtbares Klima sein kann, zeigt wohl am an-schaulichsten das inzwischen zur Zelluloid-Großmacht gereifte Frankreich, wo bekanntlich fachlich beschlagene Filmjournalisten wie Truffaut, Godard, Rohmer oder Chabrol die legendäre „Nouvelle Vague" initiierten.
Würde, angenommen, Fußballsuperstar Diego Maradona bei einem hiesigen Unterligaklub kicken, wäre sein hochdotieres Spielgenie wohl hoffnungslos verschwendet: weil es seinen Mitspielern einfach am nötigen Verständnis für seine Spielideen mangelte. Der Longpaß ins Leere. Schade.
Nikolaus Leytner
tip 3/84 Berlin, Berichterstattung anlässlich der Berlinale
„Zeitgenossen“ Kinofilm, Österreich 1993, Regie: Ernst Josef Lauscher, Buch: Ernst Josef Lauscher und Peter Berecz. Produziert von Veit Heiduschka, WEGA Film, Wien
Ernst Josef Lauscher (Jahrgang 1947) ist ein Kämpfer, dem man anmerkt, daß es für ihn bei der Arbeit keine Kompromisse gibt, man spürt aber auch, daß er für das, was er bis jetzt geschaffen hat, enorme Kraft und Energie aufgewendet hat. Sein Erstling „Kopfstand" war eine Auseinander-setzung mit der Psychiatrie, sein neuer Film „Zeitgenossen" ist eine eigenwillige Komödie über ein paar Wiener in Wien. Ein Film, der mit einem besessenen Kraftakt hingeworfen wurde, als sei er der letzte oder einzig mögliche, ein Film, wie es ihn nicht jeden Tag geben kann. Anstatt einer Hauptperson sind es gleich fünf, anstatt einer Geschichte werden fünf oder - so man will - noch mehr erzählt. Und alles gerafft in den Zeitablauf eines Wochenendes und hochkarätig besetzt: Wolfram Berger, Gabriel Barylli („Der Schüler Gerber"), Evelyn Opela, Eva-Maria Meineke und Antonia Reininghaus. Doch Lauscher sagt: „Von einem Film in zwei Jahren kann ich nicht leben!". Trotzdem hängt er, wie alle Wiener, an Wien. „Ich bin nicht dagegen, nach Deutschland zu gehen, aber finde es sinnvoller, hier zu produzieren." Sein neues Projekt fand eben beim Österreichischen Filmförderungsfond seine Gnade, deswegen hofft er jetzt auf eine Co-Produktion mit Deutschland.
STAHLNETZ
Der Tagestipp
ARD Stahlnetz - Innere Angelegenheiten, 20.15 Fast authentischer Krimi
Polizeiinterne Machtkämpfe als aufrüttelnder Krimistoff
Hallo Mama", begann der Brief, der die Parole vom Freund und Helfer, nirgends so strapaziert wie im weißblauen Musterstaat, nachhaltig beschädigte. Silvia, eine junge Polizeimeisterin, gerade mal 22, hatte ihn geschrieben, bevor sie sich 1998 mit der Dienstwaffe erschoss. „Ich habe keine Lust mehr, mich von denen quälen zu lassen." Der Fall beschäftigte die Münchner Gerichte. Silvias Vorgesetzter wurde verurteilt - wegen Beleidigung, so die Begründung. Eine eklatante Verharmlosung für einen Tatbestand, der sich in einer Zielvorgabe des Reviers so ausnahm: Frauen sind aus der Schicht zu mobben.
Ein Einzelfall? Bei weitem nicht, wie Ernst Josef Lauscher, Ko-Autor und Regisseur der nun dritten „Stahlnetz'-Neuauflage weiß. Bei seinen Recherchen stieß er auf Dutzende von Aktenordnern, alle des gleichen Inhalts: Druck auf junge Polizistinnen, ausgelöst durch Frauenfeindlichkeit, mit der uniformierte Platzhirsche ihre Bastion verteidigen. »Dabei werden die wenigsten Attacken ruchbar, da unbedingter Korpsgeist auch das ärgste Fehlverhalten vertuschen lässt." Ein Dauerproblem, das Lauscher in bewährter „Stahlnetz'-Tradition hart an der Realität in einen so aufrüttelnden wie atemlosen Krimi verpackt hat.
Christi Bronnenmeyer
ARD
Stahlnetz: Innere Angelegenheiten
Packender Polizeifilm über eine Wache, auf der man die Dienstvorschriften mis-sachtet
Obwohl Stefanie Stappenbeck 1999 den Deutschen (Nachwuchs-)Fernsehpreis ge-
wann, gehört sie zu den eher unbekannten TV-Gesichtern. Das ändert sich bestimmt durch ihre Hauptrolle in dieser „Stahlnetz"-Folge: Nach 18 Monaten Schule freut sich Kommissars-Anwärterin Sandra Bienek auf ihr Praktikum bei der Polizei - und auf ihre Kollegin Sabine, die sie auf der
Polizeischule kennen gelernt hatte. Geschockt muss Sandra hören, dass die junge Frau wegen einer Krebserkrankung Selbstmord begangen hat. Doch Sandra kommt der Verdacht, dass ihre neuen Kollegen an Sabines Tod mitschuldig sind...
Dtl.2001 L 90 Min. bis 21.45
Stern tv magazin vom 26, April 2001
ARD KRIMIREIHE - Stahlnetz: Innere Angelegenheiten
Mobbing - und Mord? - auf dem Polizeirevier 20.15;
Es sollte ein „großer Tag" werden, erzählt Kommissarsanwärterin Sandra Bienek (Stefanie Stappenbeck) aus dem Off: Nach langer Theoriephase auf der Polizeischule tritt die junge Frau ihr Praktikum bei der Hannoveraner Polizei an. Sie freut sich, auf das Gemeinschaftsgefühl, von dem ihr Vater immer schwärmt, und auf die befreundete Kollegin Sabine, die sie am neuen Arbeitsplatz erwartet Als Sandra eintrifft, erfährt sie, dass Sabine sich gerade das Leben genommen hat. Angeblich, weil sie Krebs hatte. Auch mit dem Gemeinschaftsgefühl ist es nicht weit her. Wenn die alten Hasen traurige Scherze über das Blasen bei Verkehrskontrollen reißen, während ihr Schlips in der Pizza hängt, geht der Umgangston schnell in Mobbing über. Sandra lässt sich nicht unterkriegen, doch als die Idealistin Kollegen anzeigt, die bei einer Anti-
Nazi-Demo Demonstranten misshandelt haben, verschärft sich die Situation erheblich. Dass die Protagonistin in alles persönlich involviert ist - ihr Freund ist mit den verprügelten Demonstranten befreundet und macht Schluss -, stört nicht wirklich. Die erste von zwei „Stahlnetz"-Produktionen, die in diesem Jahr gesendet werden, zeigt sowohl, wie nervig das Personalien-Aufnehmen beim Verkehrsunfall für Polizisten zwischen Dienstvorschrift und Doppelschicht sein kann, als auch, wie nervig es dann für Bürger ist, mit diesen Polizisten zu tun zu haben. Und sie erzählt beiläufig, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Die Beiläufigkeit war die Hauptintention der Filmemacher. Regisseur Ernst-Josef Lauscher, der mit Orkun Ertener auch das Buch schrieb, hatte sich vorgenommen, die äußere Spannung nebensächlich zu behandeln und unspektakulären Realismus in den Vordergrund zu stellen. Die Balance gelingt. Lauscher erzählt, wie ihm im Lauf der Dreharbeiten sein Polizeiberater „abhanden gekommen" ist: Der Beamte, der gemäß altem doku-dramatischem „Stahlnetz"-Konzept für die Stimmigkeit der Details sorgen sollte, sei seit 30 Jahren Polizist gewesen und habe, fürchtet, sich von den Kollegen sagen lassen zu müssen, warum er sich diese Polizeidarstellung mit angesehen habe. Da habe er sie sich lieber nicht länger angesehen. Dass die Umstände von Sabines Tod am Ende aufgeklärt werden, ist denn auch eher dem Zufall der persönlichen Betroffenheit zu verdanken als dem unvermeidlichen Siegen der Gerechtigkeit. Es ist ein ziemlich düsteres Bild der Polizei, das „Stahlnetz" da zeichnet. Auf dem Sendeplatz, auf dem sonst „Tatort"- und „Polizeiruf 1.10"-Kommissare leicht mit ganz anderen Schwierigkeiten fertig werden, fällt es angenehm aus dem Rahmen.
Christian Bartels